Disruptive Innovation: Das Dilemma der Stärkeren

Disruptive Innovation

Das Thema Disruptive Innovation geht schon länger in der Buchbranche um, mindestens etwa seit es das eBookCamp gibt. Nicht zuletzt wohl, weil seit etwa fünf Jahren Vielen klar ist, dass Amazon einige Veränderungen anstößt. Und obwohl es schon so viel besprochen ist, ist es dennoch immer wieder interessant zu sehen, in welchem Kontext es gebraucht wird, das bspw. zur Disruption aufgerufen wird. Das wird sehr schwierig sein und die Aufgerufen ziemlich erfolglos zurücklassen. Und es war auch gar nicht Sinn der Theorie von 1997 zu erklären, wie man disruptiert, sondern viel mehr, warum Unternehmen scheitern, wenn ihr Markt disruptiert wird. Und die Quintessenz ist, es ist die Stärke von Unternehmen. Weil Unternehmen stark sind, schaffen sie nicht, die Disruption zu überstehen.

Wenn man sich das genauer anschaut, wird es deutlicher – bspw. dort, wo Unternehmen oft ihre Stärke zeigen, bei ihren Produkten. Unternehmen sind daran bestrebt, stetig ihre Produkte zu verbessern. Sie versuchen von Periode zu Periode neue Versionen ihrer Produkte auf den Markt zu bringen und immer ein Stück mehr Kundenbedürfnisse zu befriedigen. Produkte entwickeln sich, durchleben eine Evolution. Das macht Sinn. Disruptive Innovationen brechen jedoch mit dieser Evolution. Sie setzen unterhalb der Kundenbedürfnisse an, schaffen einen neuen Markt und höhlen so den traditionellen aus.

Disruptive Innovation in der Verlagsbranche

Es gibt hierfür zahlreiche Beispiele in der Geschichte der Buch- und Verlagsbranche – wenngleich die meisten immer erstmal zur Musikbranche schielen, wie diese disruptiert wurde. Neben der Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern – die selbst eine sehr kräftige Disruption war – bietet bspw. das 19. Jahrhundert eine Lektion. Ende des 18. Jahrhunderts hat man sich noch oft gegenseitig vorgelesen oder in Gruppen gelesen. Im 19. Jahrhundert änderte sich das mit dem individuellen Lesen. Verlage reagierten darauf und brachten schönere Ausgaben auf den Markt, mehr Illustrationen, bessere Produktqualität, wunderschöne Bücher. Doch mit dem Aufkommen der industriellen Revolution gab es einen neuen Menschenschlag: den Pendler. Und Pendler hatten andere Produktanforderungen. Sie brauchten etwas zu lesen, etwas zum Konzentrieren auf den Reisen, und ausschlaggebend war, dass die Lektüre gut zu transportieren war. So kamen Bernhard Tauchnitz in Leipzig und Georges Routledge in London 1841 auf die Idee, Taschenbücher auf den Markt zu bringen. Eine Frechheit. Spielzeuge im Vergleich zu den “echten Büchern”. Und dennoch haben sie genau die Kundenanforderungen getroffen und sind rasant gewachsen. Bis heute sind gebundene Bücher die Luxusvarianten. Wer nur lesen möchte, holt sich das Taschenbuch.

Dies könnte man nun als Lektion nehmen und sagen, “wir stehen ja mit dem Taschenbuch nicht auf Kriegsfuß, lasst uns das halt mit E-Books auch so machen.” Oder mit medienneutralen Prozessen, Open Access. Es gibt zahlreiche Beispiele bei denen man sagen könnte, lasst uns aus vergangenen Lektionen lernen. Und es wird deutlich mehr Menschen geben, die dem entgegnen, es sei nicht die Stärke des Unternehmens. Das Unternehmen macht gute Taschenbücher und die Kunden vertrauen darauf. Dieses Denken erkennt sich nur innerhalb seines Wertesystems und das Bekenntnis zur Stärke ist die Basis dieser Werte.

Das Phänomen Wertesystem in disruptiven Innovationen

Dieses Phänomen Wertesystem hat Clayton Christensen bei disruptiven Innovationen auf eine Stufe gestellt mit dem Problem, das Unternehmen Investoren und Gesellschafter befriedigen müssen. Wertesystem, etwas das nach außen hin oft als Tradition deklariert wird. Und Tradition ist etwas, das für den Kunden bei Kaufentscheidungen so gut wie keine Rolle spielt. Was aber bei der Entwicklung neuer Produkte einer der ausschlaggebenden Faktoren ist.

Um dieses Wertesystem zu umgehen, versucht man, in Unternehmen separate Projektteams zu bilden. Eine Handvoll Menschen, die dann auf bestimmte Zeit abseits der Unternehmensziele arbeiten, nicht den Umsatzanforderungen unterliegen oder anderen Denkblockaden der Organisation. Nach dem Launch wird das Produkt jedoch von den gleichen Marketingleuten vermarktet, von den gleichen Vertriebsleuten verkauft und von den ins Organisationsgewebe heimgekehrten Projektlern weiterentwickelt, wie alle anderen Produkte auch. Und geht damit im Wertesystem unter. Wenngleich Einzelne das Umdenken schaffen, die Lernfähigkeit einer Organisation ist viel geringer als die seiner einzelnen Mitglieder.

Adaptive Leadership und Change Management

Damit Umdenken im größeren Rahmen dennoch klappt, bedient man sich heute gern des Change Management – ein boomender Markt, wenn alles im Wandel ist, nur die Menschen nicht mitkommen. Ein Modell, das hier beim Menschen ansetzt ist Adaptive Leadership. Darin geht es darum, Führen und Autorität zu trennen und adaptive Herausforderungen nicht mit technischen Lösungen zu entgegnen.

Um den Unterschied zwischen technisch und adaptiv zu erklären gibt es hierin ein einleuchtendes Beispiel, dass zudem verdeutlicht, wie sehr auch in Menschen Wertesysteme regieren. Im Beispiel geht es um Menschen, die einen Herzinfarkt hatten. Sofern diese den Infarkt überlebt haben, gibt es zwei Herausforderungen, damit sie wieder gesund werden. Die eine ist eine technische; hier sind Problem und Lösung genau definierbar: etwa ein Chirurg repariert oder umgeht in einer Operation beschädigtes Gewebe. Die zweite ist eine adaptive Herausforderung; hier ist das Problem nicht genau definierbar und die Lösung somit auch nicht. Der Patient muss sein Leben ändern, das Rauchen aufgeben, seine Ernährung umstellen oder sich mehr bewegen. Adaptiv ist sie, weil es ein ungewisser Prozess ist, der länger dauern kann und dessen Ende nicht absehbar ist. Und hierfür ist eine Motivation gefragt, die den Patienten zum Handeln hinreicht. Die Frage nun an Euch, wie vielen Patienten gelingt dieser Prozess?

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Geringen 10%. Da heißt, bei neun von zehn Patienten ist die Kraft des eingefahrenen Systems stärker als die Angst vorm Sterben – die ja eigentlich als sehr treibend bezeichnet wird. Und wenn im Angesicht solchen Leidens eine Umstellung schon so schwer ist, wie schwer muss es dann für jemanden sein, der 30 Jahre lang gedruckte Bücher verkauft hat, mit einmal an digitale Literatur zu glauben? Das soll nun keinen Zusammenhang zwischen E-Books und Herzinfarkten herstellen, aber es zeigt, welche Kraft hinter Verhaltensmustern steckt.

Traditionelle Marktforschung und disruptive Innovation

Um dieser Kraft zu entgegnen, versucht man in der Wirtschaft oft mit Beweisen zu kommen. Beweisen, die zum Umdenken motivieren sollen. Die Buchbranche ist da ja besonders stark: Wie ist der Marktanteil von Amazon, was sind die Bestsellerquartalszahlen, wie viele Menschen lesen E-Books…? Diese traditionelle Marktforschung versagt bei disruptiven Innovationen völlig. Viel mehr wird sie die Stärke von Unternehmen noch untermauern. So könnte bspw. eine Studie aussehen, dass man zum Kunden geht und ihn fragt, ob er denn digital lesen wolle, kapitelweise oder vielleicht sogar im Abo. Und ob ihm denn grundsätzlich das Modell Taschenbuch missfällt? Das Beweismaterial belegt dann, dass tatsächlich zwei von zehn Kunden unzufrieden sind mit Taschenbüchern und 50% davon sogar in einen E-Reader investieren würden, sofern dieser in Farbe kommt und man mit ihm anständig surfen kann. Als Mensch mit Kundenfokus – und gerade als Controller – würde ich da sagen, von einer Investition müssen wir zum jetzigen Zeitpunkt leider absehen.

“We shape our tools and thereafter our tools shape us”

Und das ist noch etwas Greifbares. Wenn es erst um Storytelling geht, um Inhalte, die niemand anfassen kann, können die meisten noch nicht mal sagen, was sie zurzeit bewegt. Und gerade hier wird es noch massive Innovationen geben. Nicht wenige Medientheorien behaupten, dass eine Änderung des Mediums immer auch eine Änderung der Inhalte nach sich zieht. “We shape our tools and thereafter our tools shape us”, wie Marshall McLuhan folgert. Bei Inhalten wird einem niemand mehr einen Hinweis geben können und dennoch wird es Menschen geben, die die Innovationen schaffen, die Märkte disruptieren werden. Und das werden diejenigen sein, die sich nicht auf eine Stärke konzentrieren, die sich nicht auf das konzentrieren, was zurzeit das Beste für die Kunden ist. Es werden diejenigen sein, die sich auf Probleme konzentrieren, die die meisten anderen noch gar nicht registriert haben.

Das beschreibendste Beispiel hierfür ist der Mann, der das Versenden per Container etabliert hat. Malcom McLean war ein LKW-Fahrer, der glücklich hätte sein können mit einem gut laufenden Betrieb. Dennoch hat eine Ineffizienz bemerkt, beim Be- und Entladen von Fracht – etwas, das ja überhaupt nicht in seinen Bereich fällt. Dennoch wollte er dem Problem mit Containern entgegnen und gab alles auf, um die Idee zu verwirklichen. Die größte Schwierigkeit war hierbei, die zahlreichen Gegner zu überzeugen: andere LKW-Fahrer, Schiffsbauer und Schiffsführer, Kranbauer, Eisenbahner, Gewerkschaften, gar das Militär. Alle waren sich sicher, dass es keinen Sinn macht, alles zu standardisieren, alle Elemente neu auszurichten, jede Fracht in Container zu verladen und diese Container auch noch selbst bezahlen zu müssen. Und dennoch sind Container ein wesentliches Element des Motors geworden, der die Weltwirtschaft antreibt. Heute reisen täglich Millionen Container um die Welt, dank McLean, der sich nicht als LKW-Fahrer definiert hat, sondern als jemand, der Frachtladungen von A nach B bringt.

Überliefern. Vom Unternehmen zum Kunden.

An diesem Beispiel sieht man eindringlich, wie wichtig bei Disruptionen die Kühnheit ist, Kunden ein Produkt vorzusetzen, das sie nicht kennen. Kunden ein Produkt vorzusetzen, von dem sie gestern noch gedacht haben, etwas dieser Art würden sie nie benutzen. Und eben ein Produkt zu etablieren, das ein Problem löst, das Kunden wie auch Unternehmen noch gar nicht registriert haben.

Die wichtige Frage, die wir hierbei mitnehmen können, ist daher nicht, ob man ein starker Buch- oder E-Book-Produzent ist, um dieses Problem zu lösen. Sondern ob man sich als Buchproduzent definiert oder als jemand, der Literatur von A nach B bringt – auf welchem Wege auch immer.

Mehr von Marcel Knöchelmann gibt es hier:

Marcel Knöchelmann | LePublikateur